Europa kämpft derzeit mit einem kritischen Defizit an einer grundlegenden Komponente seiner verteidigungsindustriellen Basis: Trinitrotoluol (TNT). Jahrzehntelange Unterinvestitionen, verschärft durch die stark gestiegene Nachfrage infolge des Konflikts in der Ukraine, haben eine erhebliche Schwachstelle in der militärischen Lieferkette des Kontinents offengelegt, was eine strategische Herausforderung für seine kollektiven Sicherheitsambitionen darstellt.
- Europa leidet unter einem erheblichen TNT-Defizit, bedingt durch jahrzehntelange Unterinvestitionen und die gestiegene Nachfrage durch den Ukraine-Konflikt.
- Die europäische Produktion von Artilleriegranaten (600.000 im Jahr 2023, 1,2 Millionen prognostiziert für 2024) hinkt Russlands geschätzten 4,5-5 Millionen Granaten pro Jahr deutlich hinterher.
- Europa ist stark von einem einzigen bedeutenden TNT-Produzenten, der polnischen Nitro-Chem, und externen Lieferanten abhängig, was erhebliche strategische Risiken birgt.
- Alleine die Produktion von 50.000 Tonnen TNT jährlich wäre notwendig, um Produktionsparität bei Artilleriegeschossen mit Russland zu erreichen.
- Unternehmen wie Sweden Ballistics (SWEBAL) arbeiten daran, die TNT-Produktion in Europa wieder aufzunehmen, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen und lokale Wertschöpfung zu schaffen.
- Die Europäische Union fördert die Wiederbelebung der Verteidigungsindustrie durch Initiativen wie den „ReArm Europe 2030“-Plan und das SAFE-Darlehensinstrument.
Die geopolitische Landschaft hat die Disparität in den Verteidigungsproduktionskapazitäten deutlich gemacht. Schätzungen zufolge übertrifft Russlands jährliche Munitionsproduktion die Europas erheblich, wobei Verhältnisse zwischen 4:1 und 6:1 genannt werden. Während europäische Verteidigungsgiganten wie Rheinmetall, BAE und KNDS zwar in der Munitionsherstellung führend sind, produzieren sie kein eigenes TNT. Derzeit ist Europa auf einen einzigen bedeutenden TNT-Produzenten angewiesen, die polnische Nitro-Chem, wobei ein Großteil ihrer Produktion bereits anderweitig gebunden ist, insbesondere durch einen im April 2025 unterzeichneten Vertrag über 310 Millionen US-Dollar (ca. 269 Millionen Euro) zur Lieferung von 18.000 Tonnen TNT über drei Jahre an das US-Militär. Diese begrenzte heimische Kapazität steht in scharfem Kontrast zu Russlands geschätzten jährlichen Ressourcen von 4,5-5 Millionen Artilleriegranaten, von denen etwa 2 Millionen aus Nordkorea stammen. Europas Produktion lag 2023 bei rund 600.000 Granaten und soll 2024 in Zusammenarbeit mit den USA 1,2 Millionen erreichen. Da eine typische Artilleriegranate etwa 10 kg TNT enthält, würde das Erreichen der Produktionsparität mit Russland einen europäischen Bedarf von grob 50.000 Tonnen pro Jahr erfordern.
Diese Abhängigkeit von einem einzigen regionalen Produzenten und externen Lieferanten, insbesondere aus Asien, birgt erhebliche strategische Risiken. Joakim Sjöblom, CEO und Mitbegründer von Sweden Ballistics (SWEBAL), betont die Fragilität solcher Lieferketten. Er zieht Parallelen zur COVID-19-Pandemie, in der Staaten Exportverbote für kritische Güter wie Impfstoffe verhängten. Sjöblom warnt, dass ein Konflikt in der Nähe eines externen TNT-Lieferanten oder sogar in Polen ähnliche Beschränkungen auslösen könnte, was die europäische Verteidigung erheblich beeinträchtigen würde. Obwohl China einer der weltweit größten TNT-Produzenten ist, schließen NATO-Staaten es im Allgemeinen aus ihren sensiblen Lieferketten aus, was die Beschaffungsoptionen weiter einschränkt.
Als Reaktion auf diesen kritischen Mangel entstehen Initiativen zur Wiederbelebung der europäischen TNT-Produktion. SWEBAL ist federführend bei den Bemühungen, die TNT-Produktion in Schweden wieder aufzunehmen, mit dem Ziel einer Jahreskapazität von 4.500 Tonnen bis 2027 – ausreichend für 400.000-450.000 Granaten. Dies markiert eine bedeutende Rückkehr für Schweden, das die TNT-Produktion 1998 während einer Phase umfassender Demilitarisierung eingestellt hatte. Zu dieser Zeit schwanden die kommerziellen Anreize für die Produktion, da aufbereitetes TNT aus stillgelegten Granaten leicht verfügbar war, oft zu minimalen Kosten für die Bergbauindustrie. Die aktuelle Investition spiegelt eine Erkenntnis der langfristigen Folgen dieses früheren industriellen Niedergangs wider.
Wirtschaftliche und strategische Notwendigkeiten der lokalen Produktion
Über die Stärkung der Sicherheit hinaus bietet die Steigerung der heimischen TNT-Produktion erhebliche wirtschaftliche Vorteile. Die europäischen Mitgliedstaaten geben jährlich rund 200 Milliarden Euro für Verteidigungsgüter aus, wovon über 60 % derzeit von amerikanischen Herstellern bezogen werden. Eine Umleitung dieser Ausgaben auf die interne europäische Fertigung könnte mehr als 10 Millionen Arbeitsplätze innerhalb des Blocks schaffen. SWEBAL ist ein Beispiel für diesen lokalisierten Ansatz und strebt eine Lieferkette an, bei der alle Maschinen, Materialien und die Produktion innerhalb eines Radius von 550 km bezogen werden. Dies stärkt nicht nur die lokalen Volkswirtschaften, sondern verkürzt auch drastisch die Lieferzeiten und umgeht aktuelle logistische Herausforderungen wie die zweimonatigen Transitzeiten für asiatische Importe, die durch Schifffahrtsrouten um das Horn von Afrika zur Umgehung des Sueskanals noch verschärft werden.
Die Europäische Union versucht, diese industrielle Wiederbelebung durch Initiativen wie den „ReArm Europe 2030“-Plan zu erleichtern, der bis zu 800 Milliarden Euro über vier Jahre freisetzen könnte, einschließlich eines Darlehensinstruments von 150 Milliarden Euro namens SAFE (Security Action for Europe). Diese Finanzierung soll die Mitgliedstaaten befähigen, heimische Verteidungsunternehmen zu priorisieren. Industrieexperten wie Sjöblom weisen jedoch auf anhaltende Herausforderungen hin. Beschaffungsaufträge der Streitkräfte und Mitgliedstaaten materialisieren sich nicht in dem Tempo, das Unternehmen für eine effektive Skalierung der Produktion benötigen. Dies schafft ein „suboptimales Risikoprofil“ für die Industrie, in dem private Unternehmen erhebliche finanzielle Risiken tragen sollen, ohne entsprechende, zeitnahe Nachfragesignale zu erhalten.
Auf dem Weg zu einer harmonisierten europäischen Verteidigungsindustrie
Ein grundlegendes Hindernis für den europäischen militärisch-industriellen Komplex bleibt die mangelnde Harmonisierung und Interoperabilität zwischen den Mitgliedstaaten. Sjöblom betont, dass Panzer aus einem Land nahtlos mit Munition aus einem anderen kompatibel sein sollten. Dies erfordert einen stärker vereinheitlichten Marktansatz für die Verteidigungsbeschaffung und -standards. Während einzelne Nationen kurzfristige Gewinne anstreben, ist eine breitere, integrierte Strategie von entscheidender Bedeutung. Das langfristige Ziel, wie von Sjöblom formuliert, geht über die unmittelbare Rentabilität hinaus und priorisiert die Prävention zukünftiger Konflikte durch robuste, autarke Verteidigungsfähigkeiten. Die Kosten eines Scheiterns beim Aufbau einer kohärenten und leistungsfähigen europäischen Verteidigungsindustrie, so deutet er an, werden letztendlich weit höher sein als die erforderlichen Investitionen.

Sebastian ist unser Spezialist für Makroökonomie und Geldpolitik: Er zerlegt EZB-Protokolle, vergleicht weltweite Inflationsdaten und liefert Leitartikel, die selbst Zentralbankerinnen lesen, um am Puls der Märkte zu bleiben. Mit über zehn Jahren Erfahrung in Research-Häusern verbindet er akademische Tiefe mit journalistischer Klarheit – und findet stets den passenden historischen Vergleich, wenn ein neuer Konjunkturzyklus anrollt. Angeblich hat er einmal versucht, seine Kaffeemaschine auf „Quantitative Easing“ umzustellen; seither gibt sie doppelte Espresso-Shots aus, doch die Geldmenge in seiner Brieftasche blieb erstaunlich stabil.